Adrenalin-Junkies auf zwei Rädern und hohen Wellen. Das passt zusammen, dachten sich 2012 die französischen Motorrad-Freaks vom Toulouser «Southsiders MC» und hielten erstmals in Biarritz «Wheels And Waves» ab. Bis 2015 hat sich die anfangs eher spontane Zusammenkunft von ein paar Dutzend Bikern und Surfern längst zu einem Riesen-Festival mit rund 10’000 Besuchern ausgeweitet – der Nukleus der weltweiten Customizing-Szene: Rebellion in Blech und Leder, statt Hightech-Sicherheit in Plastik und Goretex.

Selten regnet es so in Strömen an der französischen Atlantikküste wie an diesem Freitag. Aber nicht einmal Monsun-artige Schauer hindern die zahllosen Motorradfahrer aus aller Welt daran, ihr bestes Stück über die pitschnassen Strassen zu scheuchen. Ihr Antrieb: Vincent Prat, charismatischer Kopf des «Wheels And Waves»-Festivals, hat wieder nach Biarritz geladen. Drei Tage lang steht das sonst idyllische Basken-Städtchen am Fusse der Pyrenäen Kopf. Bollernde Bikes geben heute den Ton an und unzählige Unikate rollen über die Strassen nahe der Atlantikküste.

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Christoph Lentsch
Christoph Lentsch ist so einer. Ihn faszinieren die auf das Wesentliche reduzierten Spassgeräte: «Egal ob 26 oder 66 – jeder trägt hier Bikerboots und Jeans, T-Shirt oder Hemd. Da fühl’ ich mich einfach wohl, das ist genau meine Welt.» Motorradfahren aufs pure Biken reduziert – das trendige Individualisieren von Motorrädern und deren Verwandlung von der Stangenware zum Einzelstück geht einher mit einer Nostalgie-Welle. Schlagworte wie «Vintage», «Café Racer» und «Heritage» prägen die Umbauten von erschwinglichen und selbst reparierbaren Motorrädern wie den Zweiventil-Boxern von BMW, V2-Modellen aus Milwaukee (Harley-Davidson) und Mandello (Moto Guzzi) oder vergaserbestückten Vierzylindern aus Japan à la Honda CB 750. Viel besser als aktuelle Hightech-Bikes scheint ausgerechnet diese nach «Old School» riechende Szene jungen Nachwuchs anzusprechen. Der früher als einfallslos verpönte, heute für seine Robustheit und den unverwechselbaren Charakter begehrte Bayern-Boxer ist auch Christophs liebster Motorrad-Antrieb. «Der gibt schon rein optisch soviel her, da kannst ansonsten kaum noch was falsch machen.» Er selbst habe einen BMW-Cruiser R 1200 C im Military Look umgebaut: mit skurrilen Accessoires wie Munitionskiste und Kanister. Nicht jedermanns Geschmack, aber halt sein Stil. Weltoffen und neugierig saugt der sympathische Rauschebart-Biker die Eindrücke in Biarritz am Fusse der Event-Location «Cité de l’Océan et du Surf» auf. Unter anderem eine Riesen-Rampe und ein Skate-Pool zeugen hier von der Verbindung des Bikens mit anderen trendigen Hobbies wie Skaten und Surfen. Doch Zweirad-Freak Lentsch hat nur Augen für die Motorrad-Umbauten und schwärmt: «Besonders beeindruckt mich immer wieder die hohe Handwerkskunst, die man hier überall sieht. Da ist ein bisschen geklopft worden, die Fender sind alle mit dem Hammer bearbeitet – so muss das aussehen für mich.»

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Kaum eines der unzähligen Teile, die dem Festival-Besucher ständig ins Auge springen, ist wie das andere. Und so ist in der Summe der Teile definitiv kein Bike wie das andere. Stangenware im Serientrimm leiten fachkundige Ordner auf der Zufahrt in der Avenue de la Plage zum Atlantik-Strand freundlich, aber kategorisch zur Seite. Nur Custom-Bikes von leichten bis kompletten Umbauten rollen ungehindert aufs Festival-Gelände. Im Sattel ihre meist Halbschalen-Helm und Jeans tragenden, vollbärtigen Besitzer.

 

Auch Roland Stocker nimmt gerne die 1518 km von München nach Biarritz unter die Räder. Viele mögen vielleicht nicht seinen Namen kennen, aber sein Werk kennt fast jeder Zweirad-Enthusiast. Stocker war Projektleiter für die wegweisende BMW R nineT – ein nostalgisch-puristisches Serienmotorrad, das von Beginn an für leichten Umbau konzipiert war. Mit ihr haben BMW und namentlich Roland Stocker 2013 schon sehr früh die Zeichen der Zeit erkannt. Im Sommer 2015 schwärmt auch er vom Motorrad-Festival am Atlantik: «Wheels And Waves ist seit Jahren ein Schmelztiegel für die ganze Customizer-Szene. Es ist wunderbar, zu sehen, wie aus ganz Europa und auch von Übersee die Menschen hierherkommen und sich mit ihren Bikes präsentieren. Und alle bewegen ihre Bikes wirklich, auch zum Rennen. Das sind keine hochglanzpolierten Trailer-Queens, sondern das ist spürbare Lebenseinstellung.»

 

Mit «Rennen» meint der R-nineT-Macher das «Punks Peak Race», fester Bestandteil des gesamten Custom-Events: eine spektakuläre Mischung aus Bergrennen und Sprint über die Passstrasse am baskischen Jaizkibel. Hier darf die begeisterte Menge auch den brandneuen BMW-Prototypen «Concept Path 22» live in Action erleben, gesteuert von Motorrad-Designer Ola Stenegard. Der Mitsommernachts-Rocker aus Schweden hat die R nineT gestylt. Jetzt enthüllen er und seine Kollegen eine neue Studie, in deren Stil – das ist ein offenes Geheimnis – schon bald ein Serien-Scrambler von BMW folgen wird.

 

Roland Stocker– BMW-Father of Customizing

Selten hat ein Projektleiter bei einem grossen Hersteller wie BMW so sehr seine Aufgabe gelebt wie Roland Stocker. Der Biker aus Leidenschaft war jahrelang verantwortlich für die Entwicklung des erfolgreichen und besonders umbaufreundlichen Retro-Roadsters BMW R nineT. Als privater Schrauber ist er am Puls der Customizing-Szene. Dass BMW diesem Trend folgt, ist Leuten wie ihm, aber auch den Designern Ola Stenegard und Edgar Heinrich sowie Matthias Runde aus dem Produktmanagement zu verdanken. Und beim «Punks Peaks Race» im Rahmen des Wheels-And-Waves-Festivals sitzt heutzutage Marketing-Leiter Ralf Rodepeter unerschrocken im Sattel. So kann auch eine grosse Marke in eine Szene eintauchen.

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Neben BMW, Triumph, Ducati und Yamaha zeigt vor allem Harley-Davidson Flagge in Biarritz. Die Amerikaner setzen ihre «Dark Custom»-Modelle in Szene, ein englischer Harley-Händler aus East Sussex stellt verschiedene Umbauten des Basismodells Street 750 aus, ein Custom-Wettbewerb mit Teilnehmern aus ganz Europa findet hier seinen Höhepunkt. Und: Harley-Davidsons Chef-Designer Ray Drea persönlich schlendert übers Festival-Gelände am Atlantik. Drea geniesst den Besuch der europäischen Custom-Szene sehr: «Mit gefällt besonders die Ehrlichkeit der Bikes hier. Alles ist authentisch. Denn die Maschinen werden wirklich gefahren, und das kannst du sofort erkennen.»

 

Die Kult-Marke aus Milwaukee sei momentan besonders darauf aus, junge Zielgruppen zu bedienen. Gerade hierfür sei «Wheels And Waves» eine unschätzbar wertvolle Inspiration: «Das alles ist wirklich Hirnnahrung für mich.» Als besonderen Customizing-Trend habe Ray Drea «Performance» ausgemacht. Das schlage sich nicht nur in der Bauart der Umbauten nieder, sondern auch im Design. Und deshalb seien Aluminium und Schwarz derzeit sehr dominant, Chrom dagegen sei eher auf dem Rückzug.

 

Performance, Sport – zwei ausgemachte Trends, die bereits seit Jahren in immer zahl- und fantasiereicheren Custom-Bikes ihren Ausdruck finden. Das wird mit Sicherheit auch beim «Wheels And Waves» 2016 so sein. Im nächsten Jahr könnte das Customizing-Mekka Europas zwar nicht mehr Biarritz, sondern San Sebastian heissen. Aber auch in der nahegelegenen spanischen und ebenfalls baskischen Location wird das dem Reiz der Mischung aus Bikes und Boards nicht schaden.

Fotos: Ralf Schütze